Sicherheit geht (nicht immer) vor!
Sicherheit geht (nicht immer) vor!
EuGH, Urt. v. 7.9.2023, Rs. C-601/21 – Kommission ./. Polen
Durch nationales Recht hatte Polen Aufträge über die Herstellung von verschiedenen amtlichen Dokumenten (z.B. Personalausweise, Reisepässe, Führerscheine aber auch Dienstausweise für verschiedene Behörden) pauschal vom Anwendungsbereich des europäischen Vergaberechts ausgenommen. Das Argument: Gefahren für die wesentlichen Sicherheitsinteressen Polens. Entsprechend beauftragte Polen ein staatliches Unternehmen mit dem Druck der Dokumente, ohne ein europaweites Verfahren durchzuführen. Die Europäische Kommission sah in der nationalen Gesetzgebung einen vergaberechtlichen Verstoß und klagte vor dem EuGH.
Dieser kommt letztlich zum gleichen Ergebnis: Nicht für jedes amtliche Dokument könne eine pauschale vergaberechtliche Ausnahme gelten.
Aus Art. 15 Abs. 2 RL 2014/24/EU iVm Art. 346 AEUV ergibt sich, dass eine Abweichung von vergaberechtlichen Vorgaben grundsätzlich auf den Schutz wesentlicher Sicherheitsinteressen gestützt werden kann. Auch der Gerichtshof betont insoweit den Ermessensspielraum der Mitgliedsstaaten bei der Entscheidung über die hierfür erforderlichen Maßnahmen, wird danach allerdings deutlicher. Die Ausnahme könne nicht als „Ermächtigung der Mitgliedstaaten ausgelegt werden, durch bloße Berufung auf diese Interessen von den Bestimmungen des AEU‑Vertrags abzuweichen.“ Vielmehr müsse jeder Mitgliedsstaat nachweisen, dass eine Ausschreibung im Sinne der Richtlinie dem Schutz dieser Interessen nicht gerecht werde.
Vorliegend genügte dem EuGH hierfür weder das Bedürfnis nach einer kontinuierlichen Versorgung mit amtlichen Dokumenten, noch die Vertraulichkeit von Daten. Eine entsprechende Versorgungssicherheit ließe sich beispielsweise durch Vertragsschlüsse mit mehreren Herstellern und durch die Festlegung strenger Eignungskriterien (Mindestumsätze, Vorlage von Jahresabschlüssen und Berufshaftpflichtversicherungen) sicherstellen. Die Vertraulichkeit der Daten könne durch Geheimhaltungsklauseln mit Ausschluss- oder Sanktionscharakter oder Verfahrensarten mit beschränkter Zahl an Bewerbern gewährleistet werden. Jedenfalls habe Polen einen gegenteiligen Nachweis nicht geführt. In der Konsequenz sei deshalb die generelle Nichtanwendung des Vergaberechts für die Herstellung der meisten öffentlichen Dokumente unverhältnismäßig.
Einzig die Herstellung von Dienstausweisen für z. B. Polizei, Militär, Grenz- oder Staatsschutz rechtfertige zusätzliche Anforderungen an die Vertraulichkeit. Hier könne das Durchsickern von Informationen irreparable Schäden für die nationale Sicherheit verursachen, wenn Drittstaaten, kriminelle oder terroristische Organisationen an diese Informationen gelangten.
Praxishinweis:
In Deutschland wurde die vergaberechtliche Ausnahme für „normale“ Aufträge, die nicht bereits unter das Sonderregime für verteidigungs- oder sicherheitsspezifische öffentliche Aufträge fallen, in § 117 Nr. 1 bis 3 GWB umgesetzt. Zurecht fühlen sich interessierte Leser an frühere Entscheidungen erinnert: Anknüpfend an seine restriktive Rechtsprechungslinie (EuGH, Urt. v. 20.03.2018, Rs. C-187/16 – Kommission ./. Österreich (Staatsdruckerei), Rn. 80 f.) gilt nach der Entscheidung des EuGH auf nationaler wie europäischer Ebene weiterhin, dass Ausnahmen eng auszulegen sind. Das gilt in diesen Fall nicht nur für ausschreibende Exekutiv-, sondern auch für Legislativorgane. Das Urteil erinnert aber auch Rechtsanwender daran, dass sie das Absehen von vergaberechtlichen Vorgaben – für jeden Einzelfall neu – ausführlich begründen und nachweisen müssen: Das Vorliegen einer generellen Beeinträchtigung von wesentlichen Sicherheitsinteressen reicht nicht. Zu deren Schutz muss das Absehen von einem europaweiten Vergabeverfahren im Einzelfall erforderlich sein. Dennoch deutet die Entscheidung an, dass Ausnahmen denkbar sind, für die das Vergaberecht pauschal und ohne konkrete Einzelfallprüfung keine Anwendung finden kann, für den vorliegenden Fall etwa für die betreffenden Dienstausweise. Es bleibt abzuwarten, ob die Entscheidung den vorsichtigen Wendepunkt für das strenge bisherige Verständnis des EuGH darstellt.
Ihr Vergabeteam von BHO Legal
Dr. Jan Helge Mey, Partner und Rechtsanwalt
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