Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz: neue Pflichten für Produktehersteller und Dienstleister
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) bringt neue Pflichten für eine Reihe an Produkten und Dienstleistungen und soll die Möglichkeit für Jede und Jeden aus unserer Gesellschaft schaffen, Angebote nun barrierefrei zu nutzen. Da kommerzielle Tätigkeiten und Geschäfte des täglichen Lebens (z. B. einkaufen, Filme schauen oder Geld überweisen) mehr und mehr im Internet stattfinden, bestehen für Teile unsere Gesellschaft derzeit erhebliche Hürden, z. B. bei Menschen mit Beeinträchtigungen der Sehkraft, die rein visuelle Knöpfe auf ihrem Router bedienen möchten oder an einem Ticketschalter ohne Sprachausgabe Fahrkarten erwerben möchten.
Auf Basis Europäischer Pflichten in Form des European Accessibility Act hat die deutsche Regierung das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) erlassen. Wir stellen im Beitrag die neuen Regelungen näher vor.
Umsetzung des European Accessibility Act
Hintergrund des BFSG ist die Richtlinie des Europäischen Parlaments und des Rates über die Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen (RL 2019/882), auch bekannt als „European Accessibility Act“ (EAA). Produkte und Dienstleistungen im Internet oder mit digitalen Komponenten sollen durch die Richtlinie für Menschen mit Behinderung und Menschen mit wenig Erfahrung im Digitalen zugänglicher werden.
Bisher mussten Anbieter von Dienstleistungen und Produkten in Bezug auf Barrierefreiheit in der EU unterschiedliche und teils sich widersprechende Vorgaben erfüllen. Durch die Harmonisierung von Regelungen über Barrierefreiheit soll ein einheitlicher und freier Binnenmarkt gefördert werden. Der EAA trat bereits am 28.06.2019 in Kraft und bedarf als Richtlinie im Sinne des Art. 288 Abs. 3 AUEV eines nationalen Umsetzungsaktes. Dieser findet sich in der Bundesrepublik Form des BFSG.
Die geplanten deutschen Vorgaben zur Barrierefreiheit im Barrierefreiheitsstärkungsgesetz
Das BFSG soll die Barrierefreiheitsanforderungen der Richtlinie umsetzen und wurde bereits am 22.7.2021 im Bundesgesetzblatt verkündet. Ab dem 28.6.2025 werden die neuen Regelungen für Dienstleistungen und Produkte nach dem Gesetz gelten, die ab diesem Zeitpunkt in den Verkehr gebracht bzw. erbracht werden. Die konkreten Anforderungen an die Barrierefreiheit sind in einer Verordnung geregelt (§ 3 Abs. 2 BFSG).
Zu den Maßnahmen, die durch das BFSG umgesetzt werden sollen, gehören unter anderem die Herstellung von Barrierefreiheit in der Informationstechnologie und in öffentlichen Verkehrsmitteln. Durch die neuen Anforderungen soll gewährleistet werden, dass Menschen mit Behinderungen ohne Einschränkungen an allen Bereichen des öffentlichen Lebens teilhaben können.
Produkte und Dienstleistungen im Sinne des BFSG
Das BFSG wird konkret festlegen, für welche Produkte und Dienstleistungen die neuen Regularien gelten werden. Produkte im Sinne des Gesetzes sind gemäß § 1 Abs. 2 BFSG folgende:
- Hardwaresysteme für Universalrechner für Verbraucher einschließlich der Betriebssysteme (Nr. 1) – hierzu zählen beispielsweise Computer, Notebooks, Tablets, Smartphones oder Mobiltelefone;
- Selbstbedienungsterminals (Nr. 2) wie Zahlungsterminals, Geldautomaten, Fahrausweisautomaten oder Check-in-Automaten;
- Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang, die für Telekommunikationsdienste verwendet werden (Nr. 3), hierunter fallen auch Mobiltelefone, Router oder Modems;
- Verbraucherendgeräte mit interaktivem Leistungsumfang, die für den Zugang zu audiovisuellen Mediendiensten verwendet werden (Nr. 4) – gemeint sind z. B. smarte Fernseher oder Spielkonsolen,
- E-Book-Lesegeräte (Nr. 5).
Vom BFSG umfasste Dienstleistungen nach § 1 Abs. 3 BFSG sind:
- Telekommunikationsdienste mit Ausnahme von
Übertragungsdiensten zur Bereitstellung von Diensten der Maschine-Maschine-Kommunikation (Nr. 1), d. h. klassische Telefondienste, aber bspw. auch Messengerdienste, - Elemente von Personenbeförderungsdiensten (Nr. 2), z. B. auf Mobilgeräten angebotene Dienstleistungen inklusive entsprechender Apps,
- Bankdienstleistungen für Verbraucher (Nr. 3) wie beispielsweise die Apps der einzelnen Kreditinstitute,
- E-Books und hierfür bestimmte Software (Nr. 4),
- Dienstleistungen im elektronischen Geschäftsverkehr (Nr. 5) wie der Online-Verkauf jeglicher Produkte oder Dienstleistungen im Rahmen von Verbraucherverträgen.
Ausnahmen gibt es für Unternehmen, die weniger als zehn Beschäftigte haben und höchstens 2 Millionen Euro Jahresumsatz erzielen („Kleinstunternehmen“) nur, wenn sie Dienstleistungen anbieten. Für Kleinstunternehmen, die Produkte in Umlauf bringen, gibt es keine Erleichterungen, auch sie müssen die Pflichten beachten.
Barrierefreiheitsanforderungen nach der BFSG-Verordnung
Die abstrakten Pflichten des BFSG werden in einer Verordnung vom 15.6.2022 vom Bundesministerium für Arbeit und Soziales im Einvernehmen mit dem Bundesfinanzministerium, Bundesministerium für Wirtschaft und Energie und dem Bundesministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur konkretisiert (BFSG-VO).
Zu den Anforderungen der Verordnung zählt beispielsweise, dass Produktnutzungsinformationen und Warnhinweise künftig durch mehrere sensorische Kanäle verfügbar sein sollen (§ 4 Abs. 1 Nr. 1 BFSG-VO). Das bedeutet, dass beispielsweise neben visuellen und insbesondere schriftlichen Hinweisen auch auditiv abspielbare oder taktil erfassbare Hinweise vorhanden sein müssen. Weitergehend müssen z. B. Selbstbedienungsterminals wie Bank- oder Ticketautomaten über Sprachausgabe bedienbar sein und eine längere Antwortzeit ermöglichen (§ 7 Abs. 1 Nr. 1 und 4 BFSG-VO). Bisher kann bspw. das Einziehen von Bankkarten am Bankautomaten nach einer gewissen Dauer für Menschen, die eine vergleichsweise längere Reaktionszeit benötigen, problematisch werden. Eine weitere Maßnahme ist, dass Verbraucherendgeräte, die zur Bereitstellung von Telekommunikationsdiensten eingesetzt werden, wie z. B. Handys oder Router, zukünftig mit Hörhilfetechnologie koppelbar sein müssen (§ 9 Nr. 4 BFSG-VO).
Neue Pflichten gelten auch für viele Webseitenbetreiber
Die neuen Barrierefreiheitsverpflichtungen müssen beispielsweise von Herstellern von Smartphones und E-Readern, Anbietern von Messenger-Diensten oder Telefondienstleistern beachtet werden. Wie ist es aber im Bereich e-Commerce?
Die BFSG-VO macht deutlich, dass auch Webseitenbetreiber und Online-Shops durch einige der neuen Regelungen verpflichtet werden. So müssen Webseiten, die Dienstleistungen nach dem BFSG anbieten, „auf konsistente und angemessene Weise wahrnehmbar, bedienbar, verständlich und robust gestaltet werden“ (§ 12 Nr. 3 BFSG-VO). Weitergehend bestehen speziell im elektronischen Geschäftsverkehr – also auf Webseiten, die den Verkauf oder Erwerb von Produkten oder Dienstleistungen anbieten, verschiedene Verpflichtungen (§ 19 BFSG-VO). So müssen Webseitenbetreiber im Bereich e-Commerce verfügbare Informationen über die Barrierefreiheit der angebotenen Produkte und Dienstleistungen bereitstellen (§ 19 Nr. 1 BFSGVO).
Zusätzlich müssen eine Reihe von Diensten und Funktionen, die auf Webseiten bereitgestellt werden, bestimmte Barrierefreiheitsanforderungen erfüllen. Dazu gehören Identifizierungs-, Authentifizierungs-, Sicherheits- und Zahlungsfunktionen und -methoden, elektronische Signaturen und Zahlungsdienste, die Webseiten selbstständig oder im Rahmen von Dienstleistungen anbieten (§ 19 Nr. 2 und 3 BFSG-VO). Da lediglich Kleinstunternehmen von dem Anwendungsbereich des BFSG ausgenommen sind, werden hier auch alle Webseitenbetreiber umfasst, die in die Kategorie KMU fallen.
Kritik der Minimalumsetzung durch Organisationen und Fachverbände
Das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz (BFSG) ist trotz seines Ziels, den barrierefreien Zugang zu Produkten und Dienstleistungen für alle zu ermöglichen, in der Umsetzung stark kritisiert worden. Aktion Mensch und der Deutsche Blinden- und Sehbehindertenverband bemängeln insbesondere zu viele Ausnahmen und extensive Übergangsfristen, die es Unternehmen ermöglichen, ihre Produkte und Dienstleistungen erst in vielen Jahren barrierefrei zu gestalten. So müssen bereits aktive Bankautomaten zwar bis 2025 barrierefrei sein – demgegenüber haben neue Automaten, die bis 2025 aufgestellt werden, eine Umsetzungsfrist bis 2040 (!).
Fazit zu dem Entwurf des Barrierefreiheitsstärkungsgesetz
Insgesamt ist das Barrierefreiheitsstärkungsgesetz ein wichtiger Schritt, um digitale Angebote barrierefrei zugänglich zu machen. Durch die Umsetzung des European Accessibility Act werden Barrierefreiheitsanforderungen für Produkte und Dienstleistungen vereinheitlicht und erleichtert, wodurch Menschen mit Behinderungen an mehr Bereichen des öffentlichen Lebens mit weniger Einschränkungen teilhaben können. Obgleich die Kritik von Betroffenen und Interessensvertretern die Erwartungen an die Schlagkraft des neuen Gesetzes dämpft, ist auch das Spannungsfeld zwischen einer notwendigen Unterstützung Betroffener und dem hohen bürokratischen und technischen Aufwand für Unternehmen zu beachten.
Insbesondere haben Produkthersteller und Dienstleiste durch die Umsetzungsfristen nun Gelegenheit (und den Bedarf), ausführlich zu prüfen, ob ihre angebotenen Produkte und Dienstleistungen unter das BFSG fallen und welche Maßnahmen innerhalb der laufenden Fristen getroffen werden müssen.
Ihr Experte zu diesem Thema
Dr. Matthias Lachenmann, Rechtsanwalt und Partner
Telefon: +49 221 / 270 956 – 180, E-Mail: matthias.lachenmann@bho-legal.com