Keine Informations- und Wartepflicht (§ 134 GWB) in der Unterschwellenvergabe
Keine Informations- und Wartepflicht (§ 134 GWB) in der Unterschwellenvergabe
OLG Düsseldorf, Urteil vom 21.06.2023 – 27 U 4/22
Ein öffentlicher Auftraggeber schrieb einen Rahmenvertrag für rechtsanwaltliche Beratungsleistungen öffentlich aus (§ 9 UVgO). Eine Bieterin klagte. Sie war informiert worden, dass ihr Angebot mit einer Angebotssumme von insgesamt ca. 230.000 EUR brutto (190.000 EUR netto) im Wesentlichen nicht ausgewählt wurde, weil andere Angebote günstiger waren. Die Information erhielt sie nach Zuschlagserteilung. Sie war der Auffassung, dass die Verträge, die mittels der Zuschlagserteilung geschlossen wurden, nichtig seien, weil sie nicht vor Zuschlag informiert worden sei und beantragte eine entsprechende Feststellung. Daneben beantragte sie Einsicht in die Vergabedokumentation.
Die Klägerin hat weder in erster, noch in zweiter Instanz Erfolg. Das OLG Düsseldorf begründet seine Entscheidung im Wesentlichen damit, dass es sich bei der angegriffenen Vergabe um eine Vergabe unterhalb der EU-Schwellenwerte (für juristische Dienstleistungen als sogenannte soziale und andere besondere Dienstleistungen: 750.000 EUR netto) handele.
Oberhalb der Schwellenwerte verpflichtet § 134 GWB öffentliche Auftraggeber dazu, nicht zu berücksichtigende Bieter mindestens zehn Kalendertage vor der geplanten Zuschlagserteilung über diese zu informieren. Die Norm könne im Unterschwellenbereich nicht, auch nicht analog, angewendet werden. Eine analoge Anwendung einer Norm sei möglich, wenn der Gesetzgeber unabsichtlich einen zu regelnden Sachverhalt nicht geregelt hat (sogenannte „planwidrige Regelungslücke“). Der Gesetzgeber habe hier keine solche Lücke gelassen. Vielmehr habe er in § 46 Abs. 1 Satz 1 UVgO vorgesehen, dass eine Unterrichtung nach Zuschlagserteilung zu erfolgen hat, woraus sich schließen lasse, dass eine Information vor Zuschlagserteilung gerade nicht geplant war.
Auch das Grundrecht auf effektivem Rechtsschutz (Art. 19 Abs. 4 GG) verpflichte Gerichte nicht dazu, § 134 GWB analog anzuwenden. Ein effektiver Rechtsschutz sei auch nach Zuschlagserteilung noch gegeben. Es könnten Ansprüche auf Schadensersatz geltend gemacht werden.
Ein Anspruch auf Feststellung der Nichtigkeit ergebe sich auch nicht aus EU-Primärrecht. Zwar müsse das EU-Primärrecht ggf. auch bei Unterschwellenvergaben beachtet werden, wenn diese binnenmarktrelevant sind. Dies war bei der gegenständlichen Vergabe jedoch nicht der Fall. Selbst wenn dies der Fall gewesen wäre und selbst wenn davon auszugehen wäre, dass das Unionsrecht in diesen Fällen zur Information vor Zuschlagserteilung verpflichte, bestehe dennoch keine allgemeine Regel im Unionsrecht, dass ein Verstoß gegen eine solche Regel zur Nichtigkeit des Vertrags führen müsse.
Die Klägerin habe auch keinen Anspruch auf Einsicht in die Vergabedokumentation. Ein solcher bestehe in Fällen wie diesem nur bei begründetem Verdacht, dass der Auftraggeber gegen Pflichten im Vergabeverfahren verstoßen hat. Substanzlose Mutmaßungen genügten nicht.
PRAXISHINWEIS:
Der Fall gab dem 27. Zivilsenats des OLG Düsseldorf die Gelegenheit, seine eigene Rechtsprechung zu korrigieren. „In vollständig neuer personeller Besetzung“ nimmt der Senat die von einer vorherigen Besetzung aufgestellte These, dass Verträge, die entgegen einer ungeschriebenen Informations- und Wartepflicht „zu früh“ geschlossen wurden, nichtig sind, zurück (vgl. Urt. v. 13.12.2017 – I-26 U 25/17). Die nun korrigierte Entscheidung löste seinerzeit kritische Reaktionen aus.
Die Begründung der aktuellen Entscheidung überzeugt juristisch. Soweit ein Gesetzgeber der UVgO zur Anwendung verhilft und eine Informations- und Wartepflicht nicht explizit normiert, hat er sich bewusst gegen sie entschieden. Dass eine andere, bewusste Entscheidung möglich ist, zeigt beispielsweise die landesrechtliche Situation in Mecklenburg- Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt, Thüringen und Rheinland-Pfalz, wo Informations- und Wartepflichten vorgesehen sind (§ 12 Abs. 1 VgV MV, § 8 Abs. 1 SächsVergabeG, § 19 Abs. 1 TVergG LSA, § 14 Abs. 1 ThürVgG, § 4 Abs. 1 NachprüfVO Rh-Pf). Die UVgO gestaltet die Informations- und Wartepflichten und damit verbundene Rechtsschutzmöglichkeiten bewusst anders. Die mögliche Geltendmachung von Schadensersatz der, je nach Sachlage, entgangenem Gewinn oder nur die Angebotserstellungskosten umfasst, steht Bietern auch noch nach Erteilung des Zuschlags offen. Die Erfolgsaussichten und die „Wirtschaftlichkeit“ eines solchen Vorgehens sind im Einzelfall indes abzuwägen.
Das OLG Düsseldorf folgt seiner Rechtsprechungslinie zur Akteneinsicht und äußert sich leider nicht zu der Frage, ob sich ein weitergehendes Akteneinsichtsrecht aus Ansprüchen aus Informationsfreiheitsgesetzen ableiten lässt. Informationsfreiheitsgesetze gehen von einem Anspruch auf Akteneinsicht aus, der nicht davon abhängt, ob ein gerechtfertigtes Interesse dargelegt werden kann. Beispielsweise hatte das LG Bonn in einer Entscheidung die Anwendung von § 4 Abs. 1 IFG NRW ausdrücklich in Erwägung gezogen und nur für die im konkreten Fall geforderten Informationen zum Schutz von Betriebs- und Geschäftsgeheimnissen abgelehnt (LG Bonn, Urteil vom 29.10.2021 – 1 O 221/21).
Ihr Vergabeteam von BHO Legal
Dr. Jan Helge Mey, Partner und Rechtsanwalt
Telefon: +49 221 / 270 956 – 220, E-Mail: jan.mey@bho-legal.com